Zur Notwendigkeit eines Allgemeinen Gesellschaftsdienstes

Angesichts des Krieges in der Ukraine und den damit verbundenen Drohungen Russlands gegenüber der NATO, zunehmender weltweiter Krisen und Bedrohungen und den Erfahrungen der Corona-Epidemie und der Wetterkatastrophen in vielen Teilen Deutschlands stellt sich die Frage der Krisenvorsorge, -abwehr und -bewältigung in Deutschland dringender denn je. Dies gilt für die Verteidigungspolitik wie für den Krisen- und Katastrophenschutz. Teil des Modernisierungsjahrzehnts einer von der CDU/CSU-geführten Bundesregierung in der kommenden Legislaturperiode muss es darum sein, hier grundlegende Maßnahmen zu ergreifen, um Deutschlands Resilienz und Handlungsfähigkeit zu stärken. Dafür ist es notwendig, die notwendigen und vorhandenen Instrumente zu stärken: die Bundeswehr und die zivilen Organisationen des Krisen- und Katastrophenschutzes. Da geht es um größere finanzielle Investitionen in Fähigkeiten und Material. Da geht es vor allem aber auch darum, dass diese Organisationen ausreichend Personal einsetzen können. Denn zur Abwehr oder Bewältigung von Bedrohungen und Krisen braucht es auch in unserem hochtechnisierten 21. Jahrhundert vor allem eines: eine große Zahl zupackender Hände. Dies gilt für die Bundeswehr, die Feuerwehren, das THW, das Rote Kreuz, die Polizeien und die vielen weiteren staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorganisationen. Das haben uns die Corona-Epidemie und die die Flutkatstrophen gezeigt, das zeigen uns die Übungen der Bundeswehr und NATO, das zeigen uns die Erfahrungen der Ukraine in ihrem Freiheitskampf. Alle Organisationen planen in den kommenden Jahren darum einen signifikanten Personalaufwuchs. Doch diese zupackenden Hände werden von Jahr zu Jahr weniger. Die Bevölkerungspyramide Deutschlands zeigt sich längst als Urnenform. Das wird sich in den kommenden fünf bis zehn Jahren dramatisch auswirken. Schon heute ist die Kohorte männlicher Zehnjähriger um 100.000 Köpfe geringer als die der 20-jährigen.

 

Bei Frauen sieht es genauso aus. Allein die Bundeswehr braucht bei der jetzt erreichten Personalgröße von etwas über 180.000 Soldatinnen und Soldaten einen jährlichen Regenerationsbedarf von 30.000 Einstellungen – und dementsprechend einer vielfach größeren Zahl von Bewerbern. 2025 wird sogar aufgrund fester Zusagen an die NATO eine Personalgröße von 203.000 Soldatinnen und Soldaten beabsichtigt – eine Zahl, die von hochrangigen Bundeswehroffizieren als eh zu niedrig angesetzt gesehen wird. Bei den zivilen Sicherheitsbehörden und den Organisationen des Krisen- und Katastrophenschutzes sieht es nicht viel anders aus. Dazu kommt noch ein zunehmender Wettbewerb mit der Wirtschaft und den öffentlichen Institutionen, deren Nachwuchssorgen vergleichbar, wenn nicht sogar größer sind. Darum bekommt die Diskussion um eine einen Allgemeinen Gesellschaftsdienst eine neue Dringlichkeit, schafft eine neue verfassungsrechtliche Rechtfertigung und findet wachsende Zustimmung in der Bevölkerung. Ein einjährige Allgemeiner Gesellschaftsdienst für Männer und Frauen muss Teil der Modernisierungsagende für unser Land sein. Der Dienst sollte bei allen von staatlicher Seite anerkannten Organisationen und Trägern abgeleistet werden können. Dies umfasst neben der Bundeswehr und den Organisationen des zivilen Krisen- und Katastrophenschutzes auch die Einsatzbereiche des bisherigen Freiwilligen Sozialen und Ökologischen Jahres und dem Entwicklungsdienst usw. Die Organisationen und Träger sollten dabei das Recht zur Auswahl der Bewerberinnen und Bewerber haben. Ein Allgemeiner Gesellschaftsdienst würde Deutschland auch zukünftig krisenfest machen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Es ist Zeit, die Debatte darüber wieder aufzunehmen.

 

Ausgangslage

 

Seit Aussetzung der Wehrpflicht 2011 hat sich die Gefährdungslage Deutschlands deutlich verändert:

  • Spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine und die damit verbundenen unverhohlenen Drohungen gegenüber der NATO sehen sich Deutschland und das Bündnis einer neuen komplexen Sicherheitslage in Europa gegenüber. Dies hat zu einer Neupriorisierung der Landes- und Bündnisverteidigung in Deutschland geführt. Aus dieser neuen Sicherheitslage hat Deutschland auf strategischer und konzeptioneller Ebene mit der Nationalen Sicherheitsstrategie und den Verteidigungspolitischen Richtlinien eine Reihe von Konsequenzen gezogen, eine Stärkung und einen Wiederaufbau militärischer Fähigkeiten eingeleitet und sich im Rahmen des NATO-Verteidigungsplanungsprozesses zur Erfüllung anspruchsvoller NATO-Streitkräfteziele verpflichtet.
  • Als neue Art der Bedrohung erleben wir ferner Strategien der Hybriden Kriegführung. Schon im Weißbuch von 2016 und aktuell in der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2023 sind diese als komplexe Herausforderungen für unsere Sicherheit identifiziert worden. Diese Strategien richten sich in großen Teilen gegen zivile Infrastruktur wie die Energie- und Verkehrsinfrastruktur und machen Sicherungs- und Bewachungsaufgaben in großen Umfängen notwendig. Zugleich versuchen Strategien der Hybriden Kriegführung dezidiert verfassungsrechtliche Grauzonen zu nutzen, um unterhalb der Schwelle des Verteidigungsfalls zu bleiben und damit den breiten Einsatz von Streitkräften durch den betroffenen Staat zu verhindern. Dementsprechend spielen das Konzept der Resilienz und der Grundsatz der Gesamtverteidigung wieder eine zentrale Rolle und werden in der bald zu erwartenden Rahmenrichtlinie zur Gesamtverteidigung erstmals seit mehr als 30 Jahren eine konzeptionelle Neufassung finden.
  • Seit Gründung der Bundesrepublik kam es immer wieder zu Naturkatastrophen und Großschadensereignissen, die Großeinsätze der Bundeswehr und ziviler Rettungsorganisationen nötig machten. Doch mit der Corona-Pandemie seit dem Frühjahr 2020 und der Jahrhundertflut in Westdeutschland in diesem Sommer haben solche Ereignisse eine neue Dimension angenommen und zugleich Defizite in ihrer Bewältigung deutlich sichtbar gemacht.

 

 

Alle diese Gefährdungen und Bedrohungen werden absehbar nicht abnehmen, sondern erwartbar leider eher zunehmen. Ihre erfolgreiche Abwehr oder Bewältigung erfordert den Einsatz eines großen ausgebildeten Personalkörpers. Es ist ersichtlich, dass in beiden Bereichen dringender Handlungsbedarf in Deutschland besteht.